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großmutters schuh

Resteteller | G | 2003

Foto: Leowee | Siegen 1995

Letzten Sommer kam meine Großmutter in den Garten geschwommen. Vielleicht hat sie noch einmal von den Walderdbeeren naschen wollen. Meine Großmutter wohnt seit neun Jahren auf dem Friedhof droben am Hang, unweit ihrer Villa. Ich verbringe jeden Sommer in Großmutters Villa, seit eh und je.

Herr Grotzenbecher blickt von seinem Ohrensessel zu mit herüber, genauer blickt er auf den Schuh in meinem Schoß, dessen brüchiges, aufgeriebenes Leder ich gedankenverloren zwischen den Fingern knete. Herr Grotzenbecher wartet. Was er wohl hören will?

An guten Tagen konnte meine Großmutter die Beine vom lieben Gott sehen, beginne ich. Herr Grotzenbecher hebt die Augenbrauen.

Gott sitzt auf einer Wolke, erklärte mir meine Großmutter, den Oberkörper in ihrem Korbsessel leicht nach vorn gebeugt, und ihre Stimme vibrierte wie die lose Saite einer Harfe. Er schlenkert da oben mit den Beinen. – Ach Drosi, sagte ich, der liebe Gott hat doch gar keine Beine. Da richtete meine Großmutter sich vor ihrem Buckel auf, das kannst du doch gar nicht wissen! Sie schien ehrlich entrüstet. Warum soll er denn keine Beine haben? Nur weil du sie nicht siehst? Du hast doch auch Beine, da unterm Tisch. Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. – Ob der liebe Gott auch Ringelstrümpfe trägt, fragte ich mich geschlagen gebend und rollte meine Kniestrümpfe wadenabwärts zu einer Wurst. Meine Großmutter duckte sich hinter die Tischkante und kicherte wie ein Schulmädchen. Nie habe ich kindlichere Runzeln gesehen als im Gesicht meiner Großmutter, wenn sie vom lieben Gott erzählte.

Es muss ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein, als… – Haben Sie das gelesen, unterbreche ich Herrn Grotzenbecher und reiche ihm die Tageszeitung von heute, sie haben alle nach Bonn verschifft für die Gerichtsmedizin. Die Teile müssen neu identifiziert werden; und möglichst passend wieder zusammengesetzt. Neunzehn haben sie bis jetzt ausgemacht. Neunzehn Personen. – Herr Grotzenbecher wurde mir empfohlen. Sicherheitshalber, damit nichts zurückbleibe. Die Kosten übernimmt selbstverständlich die Krankenkasse. – Schrecklich, sagt Herr Grotzenbecher und starrt auf die Schlagzeile, schrecklich. Das Leichenpuzzle – was für eine schaurige Sintflut!

Ich weiß noch, wie wir einmal mit meiner Großmutter im Auto durch Bonn gerast sind, erzähle ich Herrn Grotzenbecher, auf der Suche nach einer öffentlichen Toilette. Sie musste manchmal ganz plötzlich, das kam von den Pillen. Wörishofener Darmpillen. – Herr Grotzenbecher rückt pikiert seine Brille auf dem hageren Gesicht zurecht. – Entschuldigen Sie. – Nein, nein, wenn Ihnen das wichtig ist.

Meine Großmutter lebte in einer rumpeligen Villa am Südhang der Stadt, umsäumt von einem wild bewachsenen Garten. Rings um die bemoosten Bruchsteinplatten der Terrasse und querbeet im Unterholz sprossen Walderdbeeren, süß und aromatisch, und ein Duft nach Erde, kaltem Gemäuer und Tannengrün troff aus der regenschweren Luft. An der Wand über der Kellertreppe rankten Clematis empor und vor dem Küchenfenster blühte im Frühjahr ein Apfelbaum.

Über Metallautos und Plastikschaufeln hinweg jagte ich barfuß den Gartenweg hinunter, vorbei an Farnen, Flox und Erika, kickte hier und da ein paar wurmstichige Äpfel vor mir her, Kugeldisteln schrammten meine bloßen Arme und die haarigen Blütenstiele des Laufenden Heinrich peitschten meine Wangen. – Drosi, Drosi! –  In zwei Sätzen sprang ich die Stufen der Gartentreppe hinab, fegte über die Terrasse, nutzte den Fußabtreter als Sprungbrett über die Türschwelle und kam atemlos vor meiner Großmutter zum Stehen. Meine Großmutter saß auf der Bettkante, vertieft in ihre Knopfsammlung, die sie sich aus einer flachen Dose in die Kittelschürze geschüttet hatte; Wörishofener Darmpillen stand in geschwungenen Lettern auf dem Deckel. – Ich hab dir was mitgebracht, Drosi, schnaufte ich und streckte ihr meine Hand hin. Meine Großmutter blickte angestrengt auf das matschige Häufchen darin und tastete nach ihrer Brille. In den Linien meiner Handfläche gerann der Saft der Walderdbeeren mit dem Schmutz eines halsbrecherischen Tages zu einem unnachahmlichen Sirup. Ach, sagte meine Großmutter, die hast du alle gefunden! – Nimm dir, Drosi, die sind für dich! – Meine Großmutter steckte sich gehorsam ein paar Beeren in den Mund. Die schmecken süß, stimmt´s, Drosi! – Mmmmhhhh… Iss du auch welche, Kind! – Ich angelte die restlichen Beeren mit der Zunge von meiner Handfläche und wischte meine Hände anschließend an meinem Frotteehöschen ab. Meine Großmutter schenkte mir zum Dank für die Verköstigung einen Knopf aus durchscheinendem Plastik. Er hatte die Form einer Blume.

Die oberen Stockwerke der Villa konnte meine Großmutter wegen der steilen Treppen nicht mehr selbst erklimmen. Magischer Staub tanzte dort im fahlen Licht, das bei Tage durch die Zweige der Fichte zum Fenster hereinfiel und legte sich bei Nacht auf Möbel und Truhen, auf Buchrücken und Seifenschachteln, auf die Lider der Porzellanpuppen und in die Falten ihrer Kleider, füllte Tonkrüge und Messingschalen, deckte Wandbehänge und Gemälde zu, verwob die Spitzen der Häkeldeckchen und die Federn des Pfaus. Doch im Erdgeschoss, wo meine Großmutter hauste, blinkte es kunterbunt. Dosen und Döschen mit Pillen, Perlen, Muscheln und Knöpfen füllten Regale und Schränke, aus Schubladen quollen Gummiringe, Garnrollen und Stopfpilze, in Schuhkartons schichteten sich Briefe, Postkarten und Fotografien zusammen mit Zeitungsartikeln, Apothekenheften, Kuchenrezepten und der Losung zum Abreißen aus einem verjährten Kirchenkalender. Die Schuhschachteln enthielten das Tagewerk meiner Großmutter, das sie am liebsten in ihrem Korbsessel vor dem Kohleofen verrichtete, ein vergilbtes Schaffell als Rheumaschutz im Rücken. Sie habe genug zu stöbern und zu stapeln, zu kramen und zu durchkämmen, erklärte sie jedem, der sich in ihrem Raritätenkabinett vergeblich nach einem Fernseher umsah.

Lichter Nebel schlich um die Gräser und Halme der ungemähten Wiesen im Garten und barg die Geister der Nacht, die vor dem Grauen des Morgens noch nicht geflohen waren, wenn meine Großmutter erwachte. Nach einem Blick auf ihre Sommerschwanzuhr unter dem Kopfkissen schwang sie ächzend ihre Beine über die Bettkante, setzte sich mit einem Ruck auf und spähte durch die Scheibe der Terrassentür nach dem Himmel. Ihre blassblauen Augen in die Baumkrone versunken, faltete meine Großmutter die Hände zum Gebet.

Noch im Nachthemd zwängte sie dann mit einem Schuhlöffel ihren linken Fuß in den Halbschuh, dessen Leder am Ballen kugelrund ausgeformt war und bei jeder Bewegung knarzte. Großmutters rechter Fuß passte in keinen geschlossenen Schuh mehr, obgleich er nur noch vier Zehen besaß – der fünfte Zeh war in einem der Weltkriege erfroren –, mit dem rechten Fuß schlüpfte sie in einen orthopädischen Holzlatsch. Und auf ging es, knarz, schlurf, knarz, schlurf, auf ihren krummen Beinen Richtung Spülstein in die Küche, mit beiden Händen das Gehwägelchen vor sich herschiebend, im Mund ein zerschlissenes Handtuch.

Und Sie sind sicher, dass Ihre Großmutter, ich meine, dass dieser Schuh… –
Sehen Sie diese Ausformung hier, Herr Grotzenbecher, genau wo der Ballen war? –
Vielleicht sehen Schuhe so aus, die jahrelang unter der Erde gelegen haben, sagt Herr Grotzenbecher, Leder verzieht… – Herr Grotzenbecher, ich schwöre bei meiner Großmutter, es ist ihr Schuh! Die Form, die Stanzung, die Nähte, alles stimmt! – Hatte die Villa Ihrer Großmutter einen Keller? – Ich nicke. – Kann es nicht sein, dass der Schuh aus dem Keller geschwemmt wurde? – Ich stutze. – Überlegen Sie doch mal. – Ich überlege. – Nein, sage ich dann umso entschiedener. Meine Mutter hat nach dem Tod meiner Großmutter ihre gesamten Kleider in Müllsäcke oder zur Caritas gegeben. – Vielleicht hat sie einiges vergessen. – Sie glauben mir nicht? – Statt einer Antwort dreht Herr Grotzenbecher die Mine seines Kugelschreibers heraus und zückt den Stift wie einen Dartpfeil. – Sehen Sie, sage ich, bevor er mich trifft, im Keller der Villa gibt es eine Waschküche, eine Werkstatt mit Fahrradwracks, die hat mein Bruder zurückgelassen, einen Holzkeller, einen Kohlenkeller und eine Speisekammer. Da liegen keine alten Klamotten rum. Herr Grotzenbecher schreibt etwas in sein Notizbuch.

Nach Großmutters Katzenwäsche begann eine mehrstündige Salbungsprozedur für ihre knorpeligen, blaugeäderten Beine; das Schlafzimmer roch wie eine Apotheke: Rheumasalbe gegen die Gelenkschmerzen, Venensalbe gegen die Krampfadern, Ringelblumensalbe gegen trockene Haut, Pfefferminzöl zur Erfrischung, diese und weitere Salben verteilte meine Großmutter Schicht für Schicht auf ihren Beinen. Zuguterletzt massierte sie Brennnesselextrakt gegen Juckreiz in ihr weißes Haar, denn es schickt sich nicht, sich am Kopf zu kratzen. Nachher denken die Leute noch, ich hätte Läuse! – Das wäre nun wirklich unanständig! quietschte ich, schnitt eine empörte Grimasse und stieß dabei mit meiner Nase gegen ihre. – Nicht wahr, nickte meine Großmutter kichernd.

Dann begann das Ankleiden. An einem Leibchen befestigte sie ihre wollenen Strümpfe, die Strümpfe waren grau oder braun oder graubraun und bestimmt einige Male mit großer Sorgfalt gestopft. Über das Leibchen kam ein Baumwollhemd, darüber eine Strickjacke, deren Ellbogen ebenfalls mehrfach gestopft waren, und darüber ein Küchenkittel. Das war die tägliche Tracht meiner Großmutter. Natürlich hatte sie auch Festtagskleider, doch waren die festlichen Anlässe in ihrem Leben rar. So hingen die Kleider in einem Plastikschrank mit Prilblumenmuster und harrten ihrer Zeit. Meist hatte meine Großmutter Geburtstag, wenn sie den Reißverschluss des Schrankes aufzog, um eines der Kleider auszuwählen. Am liebsten trug sie das Kleid mit dem grünbraunen Puccimuster und einem Brokatrevers, dazu einen bunten Seidenschal, den sie mit einer Brosche vor der Brust zusammenhielt, und so führten wir sie über Stock und Stein, durch Feld, Wald und Wiese und verscheuchten von jeder Bank die Eidechsen, damit meine Großmutter sich auf dem sonnenwarmen Holz niederlassen und die Beine über ihren Gehstock legen könne, während wir unsere Thermosflaschen mit frischem Quellwasser füllten. Schließlich schafften wir es gerade noch rechtzeitig zum nächsten Ausflugslokal. Die Blase erleichtert, schlürfte meine Großmutter im Schatten eines Sonnenschirms Kaffee Hag entkoffeiniert, wedelte die Wespen von ihrer Bucheckerntorte, neckte die Löwenmäulchen in den Fensterstürzen und bewunderte die weiße Schürze der Kellnerin.

Ich folge Herrn Grotzenbechers Blick aus dem Fenster in den Hinterhof. Im Fenster gegenüber schichtet eine Frau mit einem Säugling im Arm Geschirr auf einen Stapel. Der Säugling greift abwechselnd nach ihrer Wange und nach einem Teller und verschmiert dabei Essensreste in ihrem Gesicht. Der Tellerstapel reicht ihr fast bis zum Kinn und neigt sich bedenklich zur Seite. Ein Mädchen im Vorschulalter kommt in die Küche gerannt und streckt der Frau ein Bilderbuch entgegen. Die Frau redet auf das Kind ein und schiebt es, die Hand hinter seinem Kopf, vor sich her zur Tür hinaus. – Da läuft mir das Wasser im Mund zusammen, sage ich. – Wie bitte? sagt Herr Grotzenbecher.

Ich wog kaum das Nötigste, doch während meine Großmutter mir Hänschen im Blaubeerenwald vorlas, versuchte ich auf ihrem Schoß zu schweben, aus Angst ihre Krampfadern zu zerdrücken. Sie spuckte ein wenig beim Vorlesen und garnierte die Buchseiten mit feinen Tropfen. Das imponierte mir. Noch Jahre später, wenn ich mir selbst aus Johanna Spyris Heidi-Roman in Frakturschrift vorlas, den ich im Schlafzimmerschrank meiner Mutter aufgestöbert hatte, sammelte ich ordentlich Spucke im Mund, damit meine Aussprache ähnlich feucht klänge wie die meiner Großmutter.

Meine beste Zuhörerin war ein Klammerbeutelhäschen mit Schlappohren, das ich meiner Großmutter beim Wäschemachen entwendet hatte. Meine Großmutter nannte es das Gespenst. Ich nannte es Urdrosi. Urdrosi war alt und zerschlissen, aber eine Dame von Welt. Über dem linken Auge trug sie rosa Lidschatten, über dem rechten lila Lidschatten. Wenn sie nicht gerade beim Friseur saß und ihre Ohren nach der Mode der Saison frisieren ließ, aß sie Bucheckerntorte in einem Ausflugslokal. Zwischendurch tanzte sie, dass ihre Ohren rasselnd hin und her flogen und ihre schlaksigen Arme fast den Himmel berührten. Das Wunderbarste an meiner Urdrosi aber war, dass sich ihr Rücken mit einem Reißverschluss aufziehen ließ, so dass meine Stofftiere in ihren Leib klettern und in dieser Umhüllung durch die Welt reisen konnten.

Ach, sagt Herr Grotzenbecher, das ist ja interessant! – Finden Sie? – Es erinnert an eine Gebärmutter.

Die letzte Reise meiner Großmutter führte nach Antwerpen. Ich trug ihren prall gefüllten Apothekenbeutel und ihre Gehkrücken, während mein Bruder sie am Arm die enge Stiege unserer Pension hinauf ins zweite Stockwerk hievte; meine Mutter schob von unten. Meine Großmutter schnaufte und ächzte und musste nach jeder erklommenen Stufe innehalten. Hin und wieder kicherte sie verlegen, wenn wir Hauruck! riefen, doch schließlich war es geschafft und sie landete federweich auf der durchgelegenen Matratze ihres Einzelzimmers, den Apothekenbeutel wie eine Trophäe an sich gedrückt. Binnen kürzester Zeit roch das Zimmer nach Venensalbe und Pfefferminzöl. Wir warfen uns auf den Boden und lachten uns die Zwerchfelle aus dem Leib. Meine Großmutter saß zwischen uns, blickte fragend von einem zum anderen und stimmte mit fröhlichem Kichern ein.

Meine Großmutter hat in dem Jahrhundert ihres Lebens zwei Weltkriege erlebt, aber nicht viel von der Welt. Da stand sie also krummbeinig vor Rubens’ Kreuzabnahme in der Liebfrauenkathedrale, rechts auf eine Krücke, links auf den Arm meiner Mutter gestützt und die Farben des glorreichen Gemäldes schimmerten auf ihrem Gesicht. – Und was willst Du jetzt noch sehen, Drosi? fragten wir. – Meine Großmutter blickte auf ihre ausgebeulten Schuhe. – Paris, hauchte sie.

Hinter dem Kirchturm, Drosi, da wo das Glockenspiel hertönt, siehst du? Wir standen am Fenster im zweiten Stock der Pension und blickten über das rote Dächermeer Antwerpens. Meine Großmutter reckte sich, so hoch ihr Buckel es zuließ. Ihr Halbschuh knarzte. – Wo denn? – Da, wo die große Wolke ist, hinter dem Kirchturm mit dem türkis angelaufenen Dach! – Was ist denn da? – Hinter diesem Kirchturm, Drosi, kannst du bis nach Paris sehen! – Die Augen meiner Großmutter spähten angestrengt durch das geöffnete Fenster Richtung Glockenturm. – Ist das wahr, sagte sie ungläubig. – So wahr der liebe Gott mit den Beinen baumelt, sagte ich. – Andächtig versank der blassblaue Blick meiner Großmutter am Horizont, über den Dächern von Paris. Ich bin mir sicher, dass der liebe Gott von der Wolke, durch die der Eiffelturm emporstach, zu ihr herüberwinkte.

Bald darauf, an Großmutters sechsundneunzigstem Geburtstag, hat es keine Bucheckerntorte gegeben und keine Walderdbeeren. Sie trug auch nicht ihr Festtagskleid mit dem grünbraunen Puccimuster und dem Brokatrevers. An ihrem sechsundneunzigstem Geburtstag trug meine Großmutter ein weißes Hemd mit einer Nummer am Kragen. Statt eines Seidenschals lagen Schläuche um ihren Hals und es gab Flüssignahrung aus dem Tropf. Am nächsten Tag war sie tot. Es war im August.

Entschuldigen Sie mich einen Moment, sagt Herr Grotzenbecher und steht auf. Die Tür lässt er offen, ich höre, wie seine Schritte sich knisternd auf dem Sisalläufer im Flur entfernen. Ich schleiche zu dem Holzbänkchen, das zwischen unseren Sesseln steht und blättere in seinem Notizbuch. Traumatischer Schock, siehe Artikel vom 29. August, lese ich auf der zuletzt beschrieben Seite, Ereignis im Zusammenhang mit Fundstück verursacht Erinnerungsstrom. Ich überfliege das übliche Bindungs-, Kompensations- und Imaginationsvokabular. Ein ausgeschnittener Zeitungsartikel, der lose zwischen den Seiten gelegen hat, segelt auf meine Füße; ich gehe in die Hocke, ohne ihn aufzuheben. Friedhof durch Regenmassen abgerutscht, lautet die Überschrift. Särge und Leichenteile seien freigelegt und von den Erdmassen in einige Gärten geschwemmt worden, berichtete ein Polizeisprecher. Immerhin hat er seine Hausaufgaben gemacht, Drosi, murmele ich, schnappe meine Jacke und versuche auf dem Sisal unter meinen Füßen keine Geräusche zu machen.

Auf der Straße bleibe ich stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, inhaliere ich die Luft, die würzig bereits den Herbst ankündigt. Wolkensegel ziehen eilig über den Himmel. – Soll ich dir mal die Beine vom lieben Gott zeigen, grinst das kleine Mädchen, das aufeinmal neben mir steht und seine Kniestrümpfe wadenabwärts zu einer Wurst rollt. – Soll ich dir mal aus deinem Buch da vorlesen, grinse ich und sammele ordentlich Spucke im Mund.